Seit einigen Wochen verbringe ich die meiste Zeit bei meiner Mutter,

sie erzählt(e) von ihren Erinnerungswelten, ich habe sie traurig, ängstlich, panisch, wütend, zärtlich und nachdenklich gesehen, wie sie sprachlos irgendwelchen Gestalten an der Zimmerdecke folgt, wie sie aufstehen will, wie sie ängstlich jeden nach dem Weg fragt, wie sie mich anschnauzt, ich solle ich doch sagen, was sie jetzt zu tun habe, ich sitze dabei und

hoffe täglich, dass meine Mutter entschwinden kann in eine Welt, von der ich gerade kleinste Fetzen spüre, von der wir aber nicht wissen, was sie ist. Ihr Körper ist noch da und wird stimuliert (alle 15 Minuten die Dekubitus-Matratze in Bewegung) und gefüttert, Mobilisation ist wichtig sagt die brachialste Pflegerin und lässt sie im Sitzen schmoren, wo ihr doch der Rücken schon nach fünf Minuten weh tut und sie zusammensinkt. Kann man dauer-stimuliert und mobilisiert und mit vollem Magen sterben?

Solange sie also noch da ist, bin ich offenbar die Einzige, die Zeitperioden von länger als 30 Minuten bei ihr verbringt, ich bin jetzt seit sechs Wochen drei bis viermal pro Woche zwischen drei und sieben Stunden da, und halte einfach ihre Hand oder auch nicht, je nachdem, was sie mag. Bis vor einer Woche hat sie mir noch zugenickt und sich bedankt, jetzt streckt sie kaum mehr die Hand nach mir aus, sagt kein Wort mehr und doch bin ich sicher, dass ihr mein Dabeisein gut tut. Ich sitze da, stundenlang, schaue und höre meiner Mutter zu, manchmal spricht sie viel, redet mich mit Du an, sagt meinen Namen, manchmal ist sie per Sie und spricht hochdeutsch, wie sie es mit den freundlichsten der Pflegerinnen macht. Manchmal reagiert sie den ganzen Tag nicht auf mich und doch signalisiert sie zuverlässig, ob sie Berührung gerade mag oder nicht. Zwischendurch werde ich verscheucht «wir müssen sie jetzt pflegen» oder flüchte, ich kann nicht mehr mitansehen, wie meiner Mutter befohlen wird zu essen und diese, dankbar, dass ihr jemand sagt, wo es lang geht, den Mund öffnet.

Ich hoffe einfach, dass meine Schwester die Wette nicht gewinnt (die sie mir vor zwei Wochen angeboten und die ich abgelehnt habe), nämlich dass unsere Mutter noch den 100. Geburtstag erlebt. Ich habe in den letzten Wochen einen sehr intensiven und starken emotionalen Prozess mit ihr durchlebt, angefangen mit Panik- und Angstzuständen über die Heimkehr zu ihren Eltern an ihren Geburtsort, über eine fast unendliche Reihe von Personen in ihrem Leben die weggegangen sind, über ihre Beziehung zu Eltern und Geschwistern bis hin zum jetzigen sehr friedlichen, schon fast gelösten Zustand, unterbrochen durch mehr oder weniger betonte Aufforderungen zum ESSEN und TRINKEN und die Stimulation durch die Matratze.

Mir scheint, sie hat Abschied genommen, aber wie sagen meine Geschwister: "Die ist doch so dement, die hat doch keine Psyche und keine Emotionen mehr." Und "Ich glaube dir nicht, dass sie dies oder jenes gefragt oder erbeten oder gesagt hat, das macht sie bei mir nie."  Ein Wunder, dass sie mir nicht noch, wie früher, sagen «Kleine, du spinnst.»