Ferien an einem Ort des organisierten Zufalls: Hommage à Salecina
06.45 h Ich öffne die Augen und sehe den Ersten, der sich fast geräuschlos anzieht und den 12-er Schlafraum verlässt. Er wird für uns fast 60 Gäste das Frühstück zubereiten, natürlich nicht alleine sondern mit zwei andern Gästen.
08.15 h Jetzt bin auch ich wach, stehe auf und gehe in den Waschraum. Dann auf zum Frühstück! Die paar Schritte draussen zwischen Schlaf- und Haupthaus wecken mich noch ganz auf. Es liegt etwas Schnee und es ist minus 14 Grad kalt. Aber die Aussicht hier entschädigt für alles! Frühstück bunt gemischt mit anderen Gästen am Tisch sitzend. Vereinzelte davon kenne ich aus früheren Wochen hier. Viele sind neu, es wird deutsch und italienisch durcheinandergesprochen.
09.30 h Die meisten Gäste sind schon draussen unterwegs, beschäftigt mit Langlaufen, Skifahren, Schneeschuhlaufen, Winterwandern, Spazieren, das Oberengadin erfahren. Ich mache mir eine Kanne Kräutertee in der kleinen Küche und setze mich in den gemütlichen kleinen Speisesaal. Endlich Zeit, die Zeitung zu lesen, meine persönlichen Mails zu lesen und in Ruhe zu beantworten. Zeit, um mit anderen Personen zu plaudern, die es ebenfalls nicht sofort nach draussen zieht.
11.45 h Jemand vom Betriebsteam stellt die Essensreste vom Vor-Abend in die kleine Küche. Es dauert nicht lange, da kommen drei Personen von draussen zurück und machen sich Tee, Kaffee und eine kleine Mahlzeit. Oft finden sich ein paar Gäste zusammen, die dann auch gemeinsam ein ganzes Essen mit selbst mitgebrachten Zutaten zubereiten. Heute können wir sogar draussen bei den Tischen vor dem Schlafhaus an der Sonne essen. Da es so wenig Schnee hat, kann man auch jetzt im Winter hier draussen sitzen. Ich habe es auch schon erlebt, dass sich an dieser Stelle zwei Meter hohe Schneewände türmen und man nur durch einen schmalen Gang zwischen den Häusern durchgehen kann. In schneereichen Zeiten haben die Gäste hier ganz schön viel Schnee zu räumen, was aber einigen von ihnen (mich eingeschlossen) mehr Spass als Arbeit bedeutet.
14.15 h Die Sonne hat sich hinter dem Piz Salacina versteckt und wird uns bis morgen um 10 Uhr nicht mehr wärmen. Zeit also für die Bibliothek unter dem Dach, wo man gemütlich sitzt und liest. Hier herrscht Redeverbot, so dass selbst dann, wenn viele Personen hier sind, absolute Stille herrscht. Es gibt viel zu Lesen da, aber ich habe dieses Mal mein eigenes dickes Buch mitgebracht. Wo, wenn nicht hier, komme ich endlich dazu, mich darein zu vertiefen? Zuerst bin ich alleine, nach und nach kommen Leute dazu, die unterwegs waren und jetzt hier auf den bequemen Sesseln ihren müden Körper entspannen. Eines der wenigen Geräusche, das man ab und zu hier hört, ist leises Schnarchen.
17.00 h Im grossen Esssaal hat jemand Feuer im Kamin gemacht. Einige Leute spielen, andere plaudern. In der grossen Küche sammeln sich die sechs Gäste, die das Abendessen kochen. Das Betriebsteam hat ihnen alle Zutaten abgewogen und bereit gestellt - nun geht es ans Zwiebeln schneiden, Gemüse schnippeln, kochen und würzen. Bald werden sich auch - wie immer am Sonntag um 18 Uhr - im kleinen Speisesaal ein paar interessierte Gäste treffen, um die Menü-Planung für die kommenden 7 Tage zu machen. Ein Mitglied vom Betriebsteam ist beratend dabei und wird dann die Zutaten bei möglichst lokalen Lieferant*innen bestellen. Die Kochgruppe nimmt dann aber bald Besitz von beiden Speisesälen und deckt auf. 58 Personen wollen mitessen, das Haus ist voll.
19.00 h Die Glocke wird durch das Haus und durch das Schlafhaus getragen und bimmelt laut. Vor allem die Kinder machen das mit grosser Freude, sobald das Kochteam dafür das Zeichen gibt. Im Schlafhaus, wo sonst 24 Stunden Ruhe herrscht, werden jetzt die vom Sport erschöpft Ruhenden aufgeschreckt - das Essen ist fertig! Wo an welchem Tisch finde ich noch Platz? Das Kochteam trägt die Speisen auf. "Hier! vegan!" "Qua! Salsa Bolognese con carne!" Der Vegetarier an unserem Achter-Tisch holt sich mit seinem Teller am Nebentisch die vegane Sauce. Es ist laut, es wird gelacht, Speisen werden herumgegeben und dafür gesorgt, dass alle das bekommen, was ihnen bekommt. Dann wird es stiller, weil das Essen so gut schmeckt. Bloss die Kinder sind nicht immer zufrieden, weil ihnen das ungewohnte Essen nicht schmeckt. Wir haben für unseren Kleinsten vorgesorgt und ihm eine Portion Couscous mit Frischkäse zubereitet. Damit ist auch er glücklich und albert mit seinen Geschwistern rum. Schwieriger wird es mit Kindern dann, wenn die Kochgruppe auch um halb acht noch nicht fertig gekocht hat. Aber das gehört hier einfach dazu, da sechs Laienköche, die sich meistens nicht kennen gemeinsam das Essen für so viele Personen zubereiten, kann es schon mal vorkommen, dass sie die Zeit nicht im Griff haben und der Auflauf zu spät in den Ofen kommt oder die selbst zubereiteten Spätzle halt ihre Zeit brauchen, bis alle durchgepresst und gekocht sind.
20.00 h Die Spülgruppe wuselt zwischen den Tischen und in den beiden Küchen rum. Die verantwortliche Person für die Koordination unterbricht das geschäftige Treiben und ruft "Koordination jetzt, Coordinazione!" Alle versammeln sich im grossen Speisesaal. Meistens gibt es dann zuerst einen Applaus für die Kochgruppe (freundlich, begeistert, enthusiastisch), dann stellen sich die Neu-Ankömmlinge vor und dann geht es ans Eingemachte. Rund 30 Dienste wollen verteilt sein, denn soviele Arbeiten gibt es zu tun. Ob Toiletten oder Treppenhaus, Eingang oder Speisesaal, alles wird täglich geputzt. Und dann die Kochgruppe, die Spülgruppe, die Frühstücksgruppe - am Schönsten ist es, wenn sich die Gäste schon im Voraus auf der grossen Tafel eingetragen haben. Wenn nicht, dann wird es schon mal ganz still, wenn noch Leute für einen Dienst gesucht werden. Die, die schon einen Dienst haben, lehnen sich zufrieden zurück und die, die noch keinen haben machen sich ganz klein und unsichtbar. Da muss auch mal mit etwas Nachdruck darauf aufmerksam gemacht werden, dass es kein Essen gibt, wenn niemand kocht. Und dass eigentlich die Regel gilt, dass jede Person täglich einen kleineren oder grösseren Dienst macht. Wenn die Dienste verteilt sind, folgt üblicherweise der Wetterbericht und danach kann wer will noch sein/ihr eigenes Anliegen einbringen. Ob es sich um verloren gegangene Handschuhe handelt oder um das Defizit in der Getränkekasse, um unsaubere Toiletten oder ein politisches Thema, um eine kleinere persönliche Befindlichkeit oder einen grösseren Ärger - alles hat hier Raum. Deshalb dauert die Koordination zwischen kurz und gefühlt endlos lang.
21.00h Dies ist die Zeit, wo gemeinsame Aktivitäten (vorher bei der Koordination besprochen) geschehen können. Denn erst jetzt ist das Spülteam fertig mit spülen. Meistens im grossen Saal zeigt jemand einen Film oder es findet eine Diskussion statt oder wofür auch immer sich ein paar Gäste zusammenfinden. Viele Gäste haben sich dann schon längst überall verteilt: In den beiden Speisesäälen beim Plaudern und Spielen, in der Bibliothek, im Schlafhaus oder beim Abendspaziergang draussen. Es finden hitzige Diskussionen statt, es wird in spontan zusammengesetzten Spielrunden ausgelassen gespielt, es wird (hoffentlich jetzt wieder mehr) gesungen, der Getränkeschrank gibt das Flüssige dazu her.
23.00h Irgendwann während des Tages habe ich mir die Dinge so bereit gelegt, dass ich jetzt möglichst schnell und geräuschlos in mein Bett komme. Denn es schlafen in meinem Schlafraum bestimmt schon Personen. Diejenigen, die zum ersten Mal hier sind, erkennt man manchmal, wenn sie erst beim ins Bett gehen bemerken, dass sie ihr Bett noch nicht bezogen haben oder spätabends oder frühmorgens in einem Raschelsack wühlen. Aber diese Störung des Schlafes ist nicht die einzige, schwerer wiegen die Schnarchgeräusche. Manchmal staune ich über den Ton-Umfang, den man nachts so hören kann von anderen Schläfer*innen. Mich selbst höre ich ja nicht, aber auch ich trage zum Konzert bei.
Die Tage hier in Salecina velaufen abwechslungsreich und voller Überraschungen. Und trotz der vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten, trotz unvorhersehbaren Wetterverhältnissen, trotz völlig zufälliger Zusammensetzung der Gästeschar und auch der Gästezahl - es ist immer wieder ein tolles Erlebnis hier zu sein: www.salecina.ch