Rückwärts und vorwärts - innere Reisen

In den letzten Wochen habe ich viel zurück geschaut. Seit den Ferien in Salecina, wo ich wieder mal Anekdoten aus meinem Leben erzählt habe, habe ich mein Leben endlich aufgeschrieben. Ohne lange zu überlegen, ohne Konzept und chronologisch habe ich festgehalten, was mir in den Sinn kam. Auch bereits vorhandene Texte habe ich in diese Chronologie einkopiert, zu Erlebnissen, die ich bereits früher mal festgehalten habe.

Je älter ich in diesen Erinnerungen wurde, desto mehr fiel mir von noch früher ein. Ich sprang also beim Schreiben vor und zurück. Eine abenteuerliche innere Reise war das. Jetzt bin ich bei mir selbst heute angelangt und habe den Text ins Archiv gelegt.

Nein, Sie werden ihn nicht zu lesen bekommen - er umfasst rund 120 Seiten und ist ausschliesslich für meine Kinder und Enkelkinder geschrieben. Aber ich teile hier ein paar Dinge der letzten Wochen mit Ihnen.

Meine innere Reise hat mich immer mal wieder an Orte geführt, von denen ich nicht mehr wusste, dass es sie mal gab. Mir fielen plötzlich Menschen, Namen, Ereignisse ein die ich längst vergessen hatte. Und mehr als einmal hätte ich gerne mehr dazu gewusst, wie es wirklich war. Aber die Einzige, die noch lebt und mir Fragen zu meiner frühen Kindheit beantworten könnte, ist meine Mutter, und sie erinnert sich bloss noch an wenige Teile ihrer eigenen Kindheit, mich erkennt sie nicht mehr. Diese Erfahrung hat mich überwältigt - es gibt so viele Dinge, die einfach vergessen sind, nicht mehr herauszufinden. Alles, was noch da ist, ist gefärbt und verfärbt von meinem Leben seither. Habe ich das wirklich so erlebt? 

Bei anderen Erinnerungen war das Internet sehr nützlich. Wann war die Expo, die Seegfrörni, der grosse Tsunami, dieser Song in der Hitparade? Wie war das mit diesem Flugzeugabsturz? Wann war die erste Ölkrise? Wieso habe ich als Siebzehnjährige Plakate für eine Waffenausfuhr-Initiative gemalt, was war das genau für eine Initiative? Ich habe festgestellt, dass zu ganz vielen bruchstückhaften Erinnerungen genaue Informationen im Netz auffindbar sind. Und habe zweimal die Erfahrung gemacht, dass meine persönliche Datierung und das objektive Datum nicht zusammen passten.  So hatte ich z.B. klare Erinnerungen an den Sommer 2000, an den Tod meiner Ex-Schwiegermutter, rund um die Maturität meiner Tochter. Aber tatsächlich war die Maturitätsprüfung meiner Tochter 1999, das liess sich nicht wegdiskutieren. Auch 2001 (9-11) hätte ich in meiner Erinnerung anders datiert. Vermutlich ist das ein häufiges Phänomen, und Erinnerungen sind trügerisch. Auch wenn wir sie für richtig halten. Wir konstruieren uns unser Leben fortwährend neu und schreiben es laufend um.

Manche Erinnerungen haben mich zum Weinen gebracht, vor Rührung vor allem, aber auch alte Schmerzen sind nochmals lebhaft aufgetaucht. Ich war nochmals ein kleines Mädchen, eine Gymnasiastin, eine junge Erwachsene, eine Ehefrau mit drei kleinen Kindern, eine Suchende, eine Geschäftsfrau und Oma von süssen Enkelkindern. Tempi passati - ich bin jetzt eine weisshaarige Frau und meine Enkelkinder sind alle schon gross. Keine Arbeit ruft mehr, das Geld kommt jetzt monatlich auf mein Konto, ohne dass ich Aufträge reinholen muss, ohne dass ich dafür arbeite. Lebe ich noch? Wofür lebe ich noch?