Wer mit einem erwachsenen Menschen mit Asperger Syndrom eine engere Beziehung hat, ist wohl ab und zu völlig perplex, verunsichert, empört.

Egal, ob es sich um einen Elternteil, den oder die Geliebte:n, eine enge Freundin oder einen enge Freund, einen Bruder oder eine Schwester oder ein erwachsenes Kind handelt – manchmal steigt Frust, Ärger oder Verunsicherung auf und man fragt sich, in welchem Film man da gerade mitspielt.

In der Folge versuche ich, in Worte zu fassen, was in der Interaktion zwischen den beiden Beteiligten passiert. Dabei geht es um Beziehungen unter Erwachsenen, also um eine erwachsene Person mit Asperger Syndrom, genannt Aspi und eine mit ihr in enger Verbindung stehenden Bezugsperson. Sei es ein Freund oder eine Freundin, eine Tochter oder ein Sohn, eine Schwester oder ein Bruder, eine Tante oder ein Onkel, die Mutter oder der Vater, eine Grossmutter oder ein Grossvater, oder eine andere wichtige Person – ich nenne diese Person Bezugsperson Noa.

Vielleicht finden Sie in Noa sich selbst wieder, vielleicht können Sie etwas für sich selbst entnehmen. Wenn Sie sich hier wiederfinden und wenn Sie sich allzu sehr belastet fühlen durch die Situation – vielleicht nehmen Sie mit This email address is being protected from spambots. You need JavaScript enabled to view it. auf. Sie hört Ihnen zu und kennt vieles aus eigener Erfahrung.

Kennen Sie selbst solche oder ähnliche Situationen?

Beispiel A:

Manchmal erzählt Noa Aspi ganz begeistert etwas Schönes. Und schaut Aspi verunsichert an und fragt «freust du dich denn nicht?». Je besser man Aspi kennt, desto eher erkennt man eine Spur von Freude in den Augen- oder Mundwinkeln.

Was steckt dahinter?

Aspi äussert sich selten euphorisch oder begeistert, auch romantische Anwandlungen liegen Aspi eher fern. Häufig ist die Mimik nicht aussagekräftig, Aspi zeigt eine freundliche Haltung und lässt niemanden dahinterblicken.

Beispiel B:

Wenn Noa etwas verändert, kann Aspi sehr ungehalten reagieren. Aspi hat häufig fixe Vorstellungen und Rituale. Und viele Dinge haben ihren festen Platz.

Was steckt dahinter?

Aspi braucht Sicherheit und Struktur und ein Zuhause, wo Aspi nicht dauernd überlegen muss, wie vorzugehen ist. Sich Aspi bei einem ihm/ihr wichtigen Ritual in den Weg zu stellen ist so aussichtslos, wie sich einer Dampfwalze zu widersetzen. In diesen Fällen bleibt Noa nur, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen oder zumindest gut zu überlegen, ob sie wirklich so wichtig sind. Die Kosten für Noa sind wohl kleiner als die für Aspi, denn Noa kann flexibler handeln als Aspi.

Beispiel C:

Manchmal in gemütlicher Runde verabschiedet sich Aspi unvermittelt und zieht sich zurück. Oder Aspi bemerkt nicht, dass die Menschen in der Nähe emotional stark beschäftigt sind und auf Zuwendung oder zumindest Aufmerksamkeit angewiesen wären.

Was steckt dahinter?

Aspi macht das, wenn seine/ihre Speicher leer und die Energie total erschöpft ist. Aspi ist dann mit sich selbst beschäftigt und muss aufladen, das kann Aspi am Besten ohne Andere um sich herum.

Beispiel D:

Noa hat plötzlich Lust, etwas zu unternehmen. Aber Aspi sagt spontan nein, obwohl Noa sicher ist, dass Aspi die Unternehmung liebt. Umgekehrt ist es durchaus möglich, dass Noa über gefasste Entscheidungen erst unmittelbar vor der Umsetzung informiert wird.

Was steckt dahinter?

Aspi kann nicht so spontan, Aspi braucht viel Vorlauf, spontan ist selten etwas möglich. Gemeinsames Aushandeln gelingt nicht immer, einerseits sind Aspis selten spontan, andererseits lassen sie sich oft auch nicht gerne im Voraus festlegen, häufig weil sie zu wenig sicher sind, ob sie dann auch die nötige Energie für die gemeinsame Unternehmung aufbringen. Oder aber Aspi weiss nicht so genau, was von ihm/ihr erwartet wird und sagt sicherheitshalber eher nein.

Beispiel E:

Wenn Noa Wünsche und Erwartungen sehr explizit formuliert oder bereits länger geklärt hat, geht Aspi sehr zuverlässig darauf ein; manchmal erfüllt Aspi dann auch Wünsche, die Noa gar nicht mehr hat. Dabei hält sich Aspi sehr genau an die verstandenen Formulierungen, so dass sich Noa manchmal fragt, weshalb Aspi nicht «mitdenkt» und vielleicht etwas über die Erwartung von Noa hinaus macht.

Was steckt dahinter?

Wer eine/n Aspi fragt, weshalb das so ist, bekommt eine Antwort wie «ich weiss ja gar nicht genau, was für dich richtig ist. Etwas Falsches mache ich lieber nicht, da ist mir das Risiko zu gross, dass du mich dann korrigierst.»

Beispiel F:

Manchmal schämt sich Noa für Aspi oder versucht auszugleichen, weil Noa die irritierten Erwartungen der anderen deutlich spürt. Manchmal hört Noa dann aber auch von anderen, dass andere Aspi viel eher so zu nehmen bereit sind als Noa es erwartet.

Was steckt dahinter?

Gesellschaftliche und soziale Normen und Konventionen interessieren Aspi wenig. Auf wiederholt brüskierende Verstösse gegen soziale Normen und Konventionen in Gesellschaft kann Noa im persönlichen Gespräch hinweisen, üblicherweise ist Aspi dankbar dafür. Gleichzeitig hilft es Aspi aber auch, im privaten Zusammenleben viel eigenen Raum und Zeit zu haben, wo Aspi sich keinen Konventionen unterziehen muss. Aspi kann nicht auch noch zuhause die maximale Anstrengung leisten, so zu sein wie die andern.

Beispiel G:

Aspi kennenzulernen ist nicht so einfach, denn Aspi erzählt kaum Privates. Aspi schweigt oft, wenn andere plaudern.

Was steckt dahinter?

Aspi erklärt mir das folgendermassen: «Ich muss wissen wie die Personen ticken, die um mich sind, damit ich mich ins Gespräch einbringe (ansonsten bin ich im Beobachtungsmodus, schaue und höre also sehr gut zu). Dies kann seltsam wirken, besonders wenn ich mit der Zeit dann zum normalen Modus wechsle weil ich die Personen inzwischen besser kenne – dann erst können sie mich wirklich kennen lernen und sehen nochmals eine andere Person. Oder wie das meine Lehrerin nach knapp 2 Jahren so schön formuliert hat: "Jetzt chunnt de au no usem Busch kroche!" Worauf ich sie erst mal fragte was sie damit meine. Die Kolleg:innen in der Lerngruppe kannten diese meine Seite aber bereits ein wenig früher von ausserhalb der Lektionen.»

Beispiel H:

Wenn Aspi, was selten ist, von sich aus anfängt, zu erzählen, was Aspi beschäftigt, fühlt sich Noa gedrängt, sofort zuhören. Auch dann, wenn Noa eigentlich überhaupt nicht in der Lage ist, auf Aspi einzugehen. Oder Noa das Aha-Erlebnis von Aspi gerade nicht interessiert.

Was steckt dahinter?

Aspi hat etwas für sich geklärt und will es nun teilen, weil Aspi oft gehört hat, dass sich mitteilen wichtig ist. Das Gespür für den richtige Moment fehlt Aspi. Es hilft Noa, in solchen Situationen zu sagen «ich bin gerade mit etwas anderem beschäftigt, in fünf Minuten, einer halben Stunde oder (in ...) habe ich Zeit für Dich.»

Gespräche mit Aspi können hochspannend sein - doch den Gedankensprüngen und erstellten Zusammenhängen von Aspi muss man folgen können. Und sich so in die Details und Aspis Welt hineinzudenken kann Noa nicht immer. Gerne hält Aspi auch längere Monologe und merkt nicht, dass die Gesprächspartner*innen nicht mehr folgen. Wenn jemand bereit ist, sich auf Aspis Welt einzulassen und sie wertfrei anzunehmen, erfährt er*sie sehr spannende Sichtweisen, auf die man selbst nie kommen würde.

Was kann eine Bezugsperson wie Noa tun?

Sehr häufig reagiert man auf Aspi mit Unverständnis und Vorwürfen: «Du denkst nie an mich, du solltest doch langsam wissen, wie kannst du nur!» Dies führt direkt in den Rückzug von Aspi und hilft nicht weiter.

Besser ist es, erst mal Abstand zu nehmen und später in entspannterer Situation Aspi freundlich zu fragen, was ihn/sie gerade zur Handlung bewogen hat. Man wird dann fast immer hören, dass Aspi keine böse Absicht hatte, sondern getan hat, was ihm/ihr richtig und möglich schien. Für diesen gegenseitigen Austausch könnte es nützlich sein, im Alltag regelmässige Gesprächstermine von festgelegter Dauer abzumachen.

Häufig wird man über das Verhalten von Aspi genervt oder frustriert sein. Statt die eigenen Gefühle über Aspi auszugiessen, bespricht man sie besser mit jemand Vertrautem oder in einer Selbsthilfegruppe. Es hilft, wenn man erkennt, welche unausgesprochenen Erwartungen man an Aspi hat.

Und es hilft sehr, wenn man lernt, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche klar auszusprechen und nicht einfach davon auszugehen, dass Aspi schon weiss, was man meint oder einem die Wünsche von den Augen ablesen kann.

Fragen, die eine Bezugsperson sich also stellen könnte:

  • Habe ich meine Gefühle klar und eindeutig geäussert?
  • Habe ich meinen Anspruch, Wunsch, Bedürfnis klar geäussert?
  • Bin ich wütend darüber, dass mein Wunsch oder meine Bitte nicht erfüllt wurden? (Wenn ja, dann habe ich zwar einen Wunsch oder eine Bitte geäussert, darin aber eine Forderung verpackt. Denn Wünsche oder Bitten können logischerweise abgelehnt werden.)
  • Ist das Verhalten von Aspi wirklich so daneben, dass ich es nicht akzeptieren kann? Wenn nein – wieso regt es mich dann so auf? Was ist daran für mich so schlimm, dass ich es nicht einfach stehen lassen kann?
  • Worüber genau bin ich wütend, enttäuscht oder irritiert? Hat das mehr mit mir oder mehr mit Aspi zu tun? Habe ich versteckte Erwartungen, von denen ich erwarte, dass Aspi sie erfüllt? Oder habe ich klare Vorstellungen, wie Aspi sein und sich mir gegenüber verhalten muss?
  • Aspi kann sich nicht ändern, aber ich kann für mich selbst sorgen. Was also kann ich für mich selbst tun, damit ich mit diesen Situationen klar komme? Was konkret hilft mir?
  • Ein Spaziergang? Musik? Ein Buch? Ein Film? Ein Gespräch? Darüber schlafen? Wer Nähe braucht, sucht sie besser genau dann nicht beim Aspi, sondern bei einer dafür empfänglichen und unterstützenden Person.